Taube Finger und Euphorie: Wir sprechen mit Sofiane Sehili, dem ersten Gewinner des Altas Mountain Race

Drei Tage, 21 Stunden und 50 Minuten. In so kurzer Zeit überwand Sofiane Sehili 1145 Kilometer brutales marokkanisches Gelände und wurde somit Gesamtsieger des ersten PEdALED Atlas Mountain Race.

Für uns bot sich die tolle Gelegenheit, Sofiane so kurz nach der Bewältigung dieser Meisterleistung, einige Fragen über das Rennen, aber auch über Marokko und seine Einstellung zum Ultra-Langstreckenrennfahren selbst, zu stellen.

Über 1000 Kilometer in weniger als vier Tagen zurückzulegen ist eine unfassbare Leistung, sowohl körperlich als auch mental – wie fühlst du dich?  

Körperlich bin ich erschöpft. Meine Lippen sind verbrannt, mein Hintern ist wund, meine Zehen schmerzen. Ich habe Probleme beim Aufstehen oder Hinsetzen. Ich habe kein Gefühl mehr in meinen Fingerspitzen. Und ich habe ein paar Kratzer, die von dem kläglichen Zustand der Wege und Straßen zeugen. Mental hingegen bin ich super glücklich, fast euphorisch. 

Was hast du rückblickend von der Strecke gehalten? War sie anspruchsvoller als du dachtest? Landschaftlich so schön wie erwartet?

Seit dem ersten Silk Road Mountain Race hat Nelson [Trees, der Organisator von SRMR und AMR] den Ruf, sehr anspruchsvolle Strecken zusammenzustellen, also habe ich schon etwas wirklich Hartes erwartet. Und dem war dann auch so: Schon der erste Pass gab mit wahnsinnigen Steigungen den Ton an. Die folgenden Abschnitte waren dementsprechend hart, mit Straßen in schlechtem Zustand oder Saumpfaden, die tagsüber schwer zu unterscheiden und nachts kaum zu erkennen waren. 

Was die Landschaft betrifft, wurde ich nicht enttäuscht. Der Atlas ist wirklich großartig. Bei dieser Art von Herausforderung lassen sich aber mentale Durchhänger nicht ganz vermeiden, und ich hatte es manchmal satt, felsige Berge zu sehen. Zum Glück waren die Oasen nie weit weg. 

Wo andere Teilnehmer sich zwischendurch ausruhen und dann versuchen mit mehr Tempo wieder aufzuholen, scheint deine Strategie zu sein, ohne größere Pausen einfach durchzufahren – gleichmäßiges Tempo statt Schlaf…

Ja, das war schon immer meine Strategie. Da greif ich auf meine Erfahrung im Langstreckenrennfahren zurück. Ich hab viel Zeit damit verbracht, diese Methode zu perfektionieren. Zu Beginn eines Rennens bemühe ich mich, an der Spitze des Feldes zu bleiben, aber sobald ich alleine vorne bin, geh ich etwas vom Gas runter und wähle ein Tempo, das ich auf Dauer halten kann. Das ist mir lieber und da das funktioniert, sehe ich keinen Grund, es zu ändern.

Viele fragen sich, wie man so viel Schlafmangel aushält, vor allem bei so viel körperlicher Anstrengung. Ist das etwas, woran du gearbeitet hast, wofür du vielleicht sogar trainiert hast?

Das ist in der Tat etwas, woran man arbeiten kann. Ich habe 2016 begonnen damit zu experimentieren und nutze jedes Rennen, mehr und mehr darüber zu lernen. Vor vier Jahren wäre ich nicht in der Lage gewesen, das zu tun, was ich in Marokko oder bei der Italy Divide geschafft habe. Damals führte eine Nacht, in der ich durchgefahren bin, noch zu schlechter Stimmung und Konzentrationsschwäche am nächsten Tag. Heute ist es für mich leicht, die ganze Nacht wach zu bleiben und mich am nächsten Tag noch gut konzentrieren zu können.

Ich habe ein paar Tricks entwickelt, um gegen das Einschlafen zu kämpfen, wenn das Gefühl aufkommt, schlafen zu müssen. Mit der Praxis haben mein Körper und mein Gehirn gelernt, eine Zeit lang ohne Schlaf auszukommen. Aber je mehr schlaflose Nächte miteinander verbunden sind, desto schwieriger ist es natürlich, konzentriert zu bleiben.  

Wie wirkt sich dieses Ausmaß an Schlafmangel auf deinen Körper und Geist aus?

Die ersten Male, als ich den Schlafentzug wirklich bis an meine Grenzen gebracht habe, begann ich zu halluzinieren, aber das passiert nicht mehr oft. In Italien, wo ich noch länger ohne Schlaf auskam, geriet ich schließlich in eine Art Delirium, in dem ich nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Ich schob mein Fahrrad durch Schnee und fragte mich, ob es wirklich passiert ist oder ob es ein Traum war.

Aber ich habe mich nie in Gefahr gebracht. Ich weiß, dass das einzig wirklich wichtige ist, den genauen Moment zu erkennen, in dem man nicht mehr gegen den Schlaf ankämpfen kann. Man muss in der Lage sein, aufzuhören, bevor man im Graben aufwacht, oder schlimmer noch.  

Wie gehst du mit dem Wettbewerbsdruck um, sobald du am Rad sitzt? 

Meine Strategie ist immer die gleiche: alles geben. Fahren so schnell du kannst. Nicht, indem man wie verrückt Gas gibt, sondern indem man kaum anhält. Deshalb hasse ich es, nicht der Erste zu sein. Wenn ich nicht vorne bin, verbringe ich meine Zeit damit, mich zu fragen, warum jemand vor mir ist, obwohl ich alles gebe. Ich denke dann nach und frage mich, was die Person besser gemacht hat als ich und wie ich sie einholen kann. Normalerweise bin ich schlecht gelaunt, wenn ich nicht der Erste bin. Aber sobald ich in Führung liege, macht mir das richtig Spaß. Es ist jedoch schwierig, die Disziplin aufrechtzuerhalten, wenn man einen großen Vorsprung hat. Der Druck sinkt natürlich, und die kleinen Pausen werden länger und häufiger. 

Wer waren deiner Meinung nach deine schärfsten Konkurrenten zu verschiedenen Zeitpunkten im Rennen?

Die ersten beiden Tage war ich mit Christian Meier im Wettkampf. Er ist ein ehemaliger Profi und ging am ersten Tag wie eine Rakete los, bevor er drei Stunden lang zum Schlafen anhielt. Da bin ich an ihm vorbeigefahren. Er holte mich ein paar Minuten vor Tagesanbruch ein, startete wieder wie ein Hochgeschwindigkeitszug. Er beeindruckte mich mit seiner Power, aber ich hatte schnell den Eindruck, dass dieses Rennen für jemanden mit fast keiner Erfahrung zu anspruchsvoll sein würde. Bei Veranstaltungen wie dieser sieht man fast immer, dass Neuankömmlinge schnell starten, ihnen dann aber bald die Luft ausgeht. Und ich dachte mir bei seinem Fahrstil schon, dass ihm das wahrscheinlich auch passieren würde.

Die Jungs, um die ich mir wirklich Sorgen gemacht habe, waren James Hayden und Jay P [Petervary]. Wir hatten letztes Jahr in Italien einen intensiven Wettkampf, und ich wusste, dass sie wie immer vorn dabei sein würden. Trotzdem fand ich Jay am ersten Tag weniger dominant als sonst. Es ist nicht leicht, im Februar in Form zu kommen, wenn man in Idaho lebt.

James war am ersten Tag unauffällig, aber am Ende war er sehr stark. Er kam mit 5 Stunden Verspätung am CP (Checkpoint) 3 an und kam erst um 2.20 Uhr ins Ziel. Zwischen CP2 und CP3 machte ich mir ein wenig Sorgen, weil ich wusste, dass ich eine schlechte Nacht hatte und er das ausnutzen und mich einholen konnte. Aber als ich sah, dass er bei CP3 mehr als 4 Stunden hinter mir lag, wurde mir klar, dass das Rennen, außer es kommt noch zu einer Katastrophe, gewonnen war.

Wie bewältigst du die Momente nach dem Rennen mit deinen direkten Konkurrenten, die im Grunde auch deine Freunde sind?

James ist nicht nur ein hervorragender Athlet, sondern auch ein Mann von großer Klasse. Ich betrachte ihn als einen Freund und habe großen Respekt vor ihm. Das Wiedersehen war nicht so warmherzig wie in Italien, wo wir den Sieg geteilt haben, aber das ist normal. Man kann diese Art von Rennen nicht gewinnen, ohne in Konkurrenz zu treten. Und ein Konkurrent ist immer enttäuscht, wenn er nicht gewinnt. Ich hatte nicht viel Zeit, um mit ihm zu reden, aber ich war trotzdem froh, dass wir uns kurz unterhalten konnten.

Jay ist eine besondere Figur im Bikepacking. Er hat nicht viele Freunde unter den Headlinern, aber ich glaube nicht, dass er besonders daran interessiert ist, Freunde zu finden. Er hatte ein paar nette Worte über meine Leistung zu sagen, was eine angenehme Überraschung war.

Ehrlich gesagt, habe ich nur sehr wenig Zeit im Ziel verbracht, weil ich schnell nach Marrakesch zurückkehren musste, um mein Flugzeug zu erwischen.

Wie hast du dich am letzten Tag des Rennens gefühlt, als dich sicher die Müdigkeit einholte, aber du dem Sieg schon so nahe warst?

Es war ziemlich merkwürdig. Ich bin etwas mehr als zwölf Stunden gefahren, obwohl ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Natürlich gab es immer die Möglichkeit eines Sturzes, eines Unfalls oder einer Panne, aber tief im Inneren wusste ich, dass das nicht passieren würde. Einerseits sagte ich mir also: „Es ist geschafft, Mission erfüllt“, aber andererseits konnte ich es noch nicht richtig auskosten.

Als ich 500 Meter vor dem Ziel das Licht erblickte, war ich von immenser Freude überwältigt, obwohl ich schon lange wusste, dass der Sieg mir gehört. Ich kam mit einem riesigen Lächeln auf meinem Gesicht ins Ziel. Paradoxerweise glaube ich, dass für mich die Erleichterung, nicht zu verlieren, stärker ist als die eigentliche Freude über den Sieg.

Wie ist es, nach dieser unglaublichen körperlichen und emotionalen Anstrengung, sowie der Renn-Euphorie, wieder in das normale Leben einzusteigen?

Die körperliche Erholung ist relativ lang, weil der Körper an seine Grenzen gestoßen ist. Es dauert zum Beispiel mehr als zwei Monate, um die Sensibilität in den Fingerspitzen wieder zu erlangen. 40 Tage nach Italien hatten sich meine Knie noch nicht davon erholt, was die toskanischen Hügel ihnen angetan haben. Die Phase nach dem Rennen, unmittelbar im Ziel, ist sicherlich die beste: Mit Freunden, Familie und Kollegen wieder vereint zu sein und zu wissen, dass sie begeistert mitgefiebert haben. In den sozialen Medien zu surfen und all die Jubelrufe zu lesen, für die wir während des Rennens keine Zeit hatten – das ist etwas, das mich immer wieder bewegt. Ich habe viele Leute, die mich unterstützen und an mich glauben, und es würde mir sehr leid tun, sie zu enttäuschen.

Jetzt wo das PEdALED Atlas Mountain Race abgehakt ist, was kommt als nächstes?

Ich bin gerade nach Paris zurückgekehrt und fahre am Samstagmorgen für ein Wochenende nach Savoyen. Ich soll dort 150-200 Kilometer pro Tag fahren. Es klingt ein bisschen verrückt, aber glaub mir, nachdem was ich in Marokko erlebt habe, ist das Fahren mit einem acht Kilogramm schweren Rennrad auf Asphaltstraßen eine Erholung.

Hier findest du die Collection zu Sofiane Rennen und hier kannst du ihm auf komoot folgen.

Fotos © Lian van Leeuwen and Nils Langer