Das Silk-Road-Mountain-Race 2019 – Geschichten vom Checkpoint 3

Jahrhundertelang reisten Händler durch staubige Wüsten, über schneebedeckte Berge und endlose Graslandschaften und brachten ihre Waren über die Seidenstraße in die entferntesten Länder. Die Route hat sich in der Geschichte als eine Lebensader der Zivilisation verankert über die sich nicht nur Waren, sondern auch Religionen, Kulturen, Sprachen und Ideen verbreiten. Heute sieht man während zweier Wochen im August wahrscheinlich nur wenige Seidenhändler die rauhe Wildnis durchqueren, dafür umso mehr Radfahrer – und das mit so wenig Gepäck wie möglich.

Dieses Jahr fand die zweite Auflage des Silk-Road-Mountain-Race statt. Unsupported, also auf eigene Faust, ohne Begleitfahrzeug und Hilfe, geht es durch das unberührte Tian-Shan-Gebirge Kirgisistans. Anders als es der Name vermuten ließe, gibt es allerdings weniger echte Straßen, stattdessen viele Schotterpisten und schlammige Singletrails. Mit 27.000 Höhenmetern und 1700 Kilometern Länge gilt das Rennen als eines der härtesten der Welt. Bei der ersten Auflage im letzten Jahr schaffte es nur die Hälfte der Teilnehmer bis ins Ziel. 

Unsere freie Outdoor-Redakteurin Amy reiste nach Kirgisistan, um am dritten und letzten Checkpoint des Rennens als ehrenamtliche Helferin mitzuhelfen. Versuchte Raubüberfälle und zerstörte Ritzel, gastfreundliche Einheimische und Hagelstürme mit erbsengroßen Eisstücken, ein freundliches Lächeln und Unmengen an Schlamm. Und Höhenkrankheit – das alles gab es hier zu erleben:

Stille

Die Sonne hatte die Berge schon ganz in Rosa getaucht, als wir in Tamga ankamen, dem Ort des dritten Checkpoints des Rennens. In diesem verschlafenen Dorf unterhalb der Berge am Rand des Yssykköl-Sees liegt ein ehemaliges Sanatorium, in dem sich einst Sportler und Astronauten aus der gesamten Sowjetunion erholten und das schon bald Anlaufstelle für eine ganz neue Gattung von Athleten werden sollte – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Silk-Road-Mountain-Race.

Bis dahin mussten wir warten.

Um sieben Uhr abends huschte der Strahl des ersten Fahrradlichts über das Gästehaus, als Jakub Silican durch den Garten des Sanatoriums auf uns zu kam. Nur zehn Minuten nach ihm folgte James Hayden. Beide waren hochkonzentriert und fokussiert, aßen jeweils zwei Portionen vom Abendessen und checkten ihre Karten, bevor sie weiter in den späten Abend fuhren.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam Lael Wilcox an. Sie strahlte nur so vor Glück. Die Betreiber des Gästehauses waren überrascht, als sie eine Radfahrerin, also eine Frau, aus der Dunkelheit auftauchen sahen. „You, sportsmen?“, fragten sie mit starkem Akzent.

Aber Jay Petervary, der Gewinner des Vorjahres war ihr dicht auf den Fersen. „Ich hab heute ein ganzes Glas Nutella gegessen. Nutella mit einem Viertel-Glas Honig drin,“ erzählte sie, während sie ein Bier hinunterstürzte und ihr Pilaw in sich hineinschlang, ein Reisgericht mit Fleisch, das es in ganz Zentralasien gibt. Mit zwei Mammut-Pässen in den Beinen und noch einem weiteren vor sich, war es für alle Teilnehmer rennentscheidend, dass sie genügend Kalorien aufnahmen, damit sie es mit den langen Anstiegen und eisigen Temperaturen aufnehmen konnten.

Drama 

Ein Uhr Morgens: Ein Telefonanruf. „Wo ist er?“. Pause. „Soll ich den Notdienst rufen?“. Pause.

Jeff vom SRMR-Team sieht besorgt aus: „Ich muss James abholen,“ sagt er. „Er hatte einen Unfall. Zwei Reiter haben ihn angegriffen.“

Die Sicherheit der Fahrer steht immer an erster Stelle, ist aber bei solchen Ultra-Langstrecken-Radrennen im Self-Supported-Modus schwer sicherzustellen. Solche Anrufe sind der Alptraum für die Organisatoren.

Der Kontrollwagen 1 kann James, der den Pass nach unten geflüchtet war, schnell retten. „Sie kamen aus dem Gebüsch, wie aus dem Nichts,“ erzählt er uns später, sichtbar geschockt. „Eigentlich waren es nur zwei betrunkene Idioten, die Geld wollten, aber die Sache wurde dann doch schnell ziemlich unangenehm.“ Er schaffte es, ihnen zu entkommen, indem er den Berg wieder hinunterfuhr, bevor er sie endgültig abhängen konnte, stießen sie ihn allerdings noch zweimal vom Rad.

James musste seine Geschicht gleich mehrmals der Polizei erzählen, die am nächsten Tag mit ihrem Eintreffen die Ruhe des Sanatoriums unterbrach. Die vorderen Fahrer hatten so viel Abstand zum Rest des Feldes, dass wir erst am späten Nachmittag die nächsten Ankommenden erwarteten.

Schlamm

James war bereits über 24 Stunden am Checkpoint gewesen, als er sich entschied, das Rennen wieder aufzunehmen. „Ich wollte gewinnen,“ verriet er uns, bevor er sich auf den Weg machte. Mit zwei Titeln bei der Transcontinental im Gepäck hatte er auch gute Chancen. Erstaunlicherweise lag er immer noch auf Platz 10 vor dem Mittelfeld, das den ganzen Tag über in großen Gruppen ankam.

Eisige Bedingungen, schwere Regenfällen und „erbsengroßer Hagel“ plagte beim diesjährigen Rennen die Fahrerinnen und Fahrer, aber vor allem der Schlamm. Der braune Matsch legte sich von Kopf bis Fuß über sie, zerstörte Umwerfer und schlug auf die Moral. Die Teilnehmer gingen unterschiedlich damit um: Einige lachten über ihr Unglück, erzählten vom Schlafen bei eisigen Temperaturen und von Lastwagen, die sie mit Schlamm bespritzten, als sie den Pass hinunterfuhren. Andere taten sich schwerer: „Das war der schlimmste Tag auf dem Fahrrad in meinem ganzen Leben,“ vertraute mir ein Fahrer an.

Mumm

Dann war da noch dieser Teilnehmer, der 80 Kilometer mit nur einem Pedal fuhr, oder Karl Speed, der zwei lange Umwege fahren musste, um seinen hinteren Umwerfer zu reparieren. Oder das Vater-Sohn-Duo aus Costa Rica, das den Abend am Checkpoint 3 damit verbrachte, mit einem Stück Holz einen Kurbelarm wieder ans Fahrrad zu klopfen. Es gab Lebensmittelvergiftungen, von der Höhe aufgeschwollene Gesichter und bandagierte Knie. Das führende Frauenpaar Marika Wagner and Sue Paz Thunström saß völlig ausgelaugt am Kontrollpunkt und beide ließen ihren Tränen freien Lauf. Viele waren kurz vor dem Aufgeben.

„Ganz klar, das Silk-Road-Mountain-Race ist eine einzige Prüfung, mit dem Unbekannten hinter jeder Kurve und jedem Berg.“ beschrieb Stefan Anamato von Pannier.cc das Rennen. „Und erst wenn du dein Rad über einen abgerutschten Pass in 4013 Meter Höhe getragen oder durch ein nicht enden wollendes Tal geschoben hast, um einem Schneesturm zu entkommen, spürst du die Majestät und Größe des kirgisischen Tian-Shan Gebirges. Es ist die ideale Bikepacking-Umgebung: herausfordernd, entlegen, aufregend, zermürbend, wunderschön, hässlich – bis dir die Adjektive ausgehen. Ein unglaubliches Erlebnis und eine Erleichterung, wenn du im Ziel bist.“

Nachdem ich den Checkpoint 3 verlassen hatte und bevor ich mich auf dem Weg zum Zieleinlauf machte, wollte ich noch die atemberaubenden Berge Kirgisistans erkunden – und traf auf Marika Wagner and Sue Paz Thunström. Voller Energie und mit strahlendem Lachen berichteten sie mir, wie sie die ganze Nacht durchgefahren waren – ohne zu schlafen. Was für ein Comeback für die beiden, dachte ich mir. James wurde am Ende Vierter, trotz der riesigen Verzögerung. Diese beiden Geschichten, ihre Entwicklung vom beinahe Aufgeben zum souveränen Überqueren der Ziellinie ein paar Tage später fasst das Rennen perfekt zusammen – äußerste Kraft und größter Mut, jede Menge Schotter und jede Menge Mumm.

Text & Fotos von Amy Jones
Die komplette Route von 2019 siehst du in dieser komoot Collection.