Tagebuch einer 45-Stunden-Fahrt: So fühlt es sich an, ein Langstrecken-Rennen in Nordengland zu fahren

Am letzten Maiwochenende bestritt Jenny Tough das „All Points North”, eine Fahrrad-Selbstversorger-Fahrt von zirka 1000 Kilometern durch den Norden Englands. Wer das Rennen erfolgreich beenden und in die Wertung will, muss an zehn Kontrollpunkten einchecken, die über die gesamte Strecke verteilt sind.

Die Distanzen sind lang, die Wetterverhältnisse können zermürbend sein, und, weil alle Teilnehmer ihre Routen selbst erstellen, kann es ziemlich einsam werden auf der Tour. Dazu kommt, dass es am Ende weder einen Preis gibt noch eine Party. Die einzige Belohnung ist das befriedigende Gefühl eines Wochenendes mit vielen Kilometern in den Beinen und die Erinnerungen an die Abenteuer auf dem Weg.

So eine Veranstaltung ist genau nach Jennys Geschmack. Denn sie ist nicht nur Komoot-Ambassador sondern auch bekennende Anhängerin des „Typ-2-Spaßes” (Englisch: Type 2 Fun): Das ist die Art von Spaß, die sich erst im Nachhinein bei Aktivitäten einstellt, die, während man sie tut, eigentlich anstrengend, gefährlich oder unangenehm sind.

Hier ist Jennys Tourtagebuch:

Bauernregel für Radfahrer

4:10 Uhr. Ich halte die Hand vor meinen Scheinwerfer, um zu sehen, ob ich es mir einbilde, oder ob der Himmel tatsächlich schon heller wird. Der Behelfslampenhalter klappert an meinem Aerolenker. Nachdem die Helmhalterung irgendwann um ein Uhr nachts abgebrochen ist, musste ich das Licht irgendwie am Rad befestigen. Die Nacht war einigermaßen anstrengend: Den richtigen Weg zu finden mit einer Lampe, die einfach nicht an ihrem Platz bleiben will, ist gar nicht so einfach. Aber jetzt ist sie fast vorbei.

Ich ziehe die Kopfhörer aus meinen Ohren, will der Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken. Vor einer ganzen Weile schon habe ich die North York Moors erreicht und bin jetzt, nach einem ziemlich anstrengenden Anstieg, hoch über der hügeligen Landschaft. Rechts von mir sehe ich den Ozean, wo die Sonne ihre ersten Aufwachversuche startet. Ohne meine Kopfhörer, die mir schon oft durch lange Nachtfahrten geholfen haben, höre ich die ersten Vögel hören, die schon wach sind. Innerhalb von Minuten ist das Morgenerwachen in vollem Gang und alle Vögel des Nationalparks begrüßen singend den neuen Tag und feiern den Erfolg meiner durchfahrenen Nacht.

Ein Hirsch springt über die Straße und dann am Rand entlang, ungestört und wahrscheinlich unbeeindruckt von meiner Anwesenheit. Vor dem roten Himmel scheinen die Wolken in Flammen zu stehen. Ich halte an und mache ein Foto und denke natürlich nicht an das Naheliegende: „Morgenrot, schlecht Wetter droht”.

Pink sky at night, Jenny Tough on the All Points North ride

Eine herrliche Abfahrt in den Sonnenaufgang bringt mich nach Whitby Abby, den zweiten Kontrollpunkt auf meiner selbst-geplanten Route für das All-Points-North-Rennen. Mich reizt das Unbekannte und in Nordengland war ich bisher noch nicht besonders viel. Deshalb hatte ich beschlossen, meine Route nur mit den vorgegebenen Koordinaten in komoot zu erstellen. Und weil ich währender der Fahrt nie auf die Kontrollpunkte achtete, kam jede der neun Kontrollen wie eine wunderbare Überraschung aus dem Nichts.

Aus Leiden wird Spaß

16:40 Uhr: Ich ziehe die Kapuze über den Helm und den Reißverschluss bis über die Nase zu, um so wenig wie möglich Haut den Elementen auszusetzen. Es ist ein Elend: Von der Seite sprüht Regen und der Seitenwind versucht die Kontrolle über meine Lenkung zu übernehmen, die Autos spritzen das Wasser der regennassen Fahrbahn auf mich und die Straße ist eine unerbittliche Abfolge von Achterbahnhügeln. Und dann überkommt mich ein verstörendes Gefühl, ich kann das Grinsen nicht unterdrücken – ich habe Spaß. Ich habe den Tiefpunkt des Typ-2-Spaßes erreicht. Nichts an meinem aktuellen Zustand ist angenehm, aber hier bin ich: Trete in die Pedale, schnappe zwischen Regengüssen nach Luft, schüttele meine Hände, um sie warm zu halten, und habe eine tolle Zeit.

Von alleine würde ich bei diesem Wetter nie rausgehen, aber das hier ist ein Rennen. Ich weiß, dass da draußen – irgendwo – 69 andere Fahrer gegen den Sturm kämpfen. Es wäre nicht fair ihnen gegenüber, wenn ich nicht alles geben würde. Ich kichere hörbar, während ich die nächste steile Abfahrt hinunter rausche, mir dabei ständig die Brille abwische, in der Hoffnung, etwas von der Straße erkennen zu können, die regelrecht schäumt vom heftigen Regen, der auf sie fällt.

Nachdem ich viele Stunden keine anderen Fahrer gesehen habe und mein Tempo langsam nachlässt, nähere ich mich langsam meiner vierten Kontrolle: Tan Hill.

Meine Strecke führt mich nach Westen, direkt gegen den Wind. Ich kämpfe außerdem gegen heftigen Regen und es fühlt sich an, als bräuchte ich Tage, um das Gasthaus auf dem Gipfel zu erreichen. Ich glaube, ich habe eine Durchschnittsgeschwindigkeit von satten 8 km/h geschafft – und bin zusammen mit zwei anderen Fahrern im dichten Nebel oben angekommen.

Eine warme Mahlzeit ausgeschlagen – und eine warme Stube

Im Pub brennt das Feuer und es herrscht Trubel. Die Versuchung ist groß, zum Essen zu bleiben. Aber als die Kellnerin sagt, dass das Essen noch 40 Minuten dauert, weiß ich, dass ich ablehnen muss. Immer noch zitternd vor Kälte, ziehe ich meine Schichten wieder an, um mich an die eisige Abfahrt zu machen. Diesmal aber mit dem Wind im Rücken.

Ich nehme die „Abenteuerroute” über eine Schotterstraße, die genau in meine Fahrtrichtung führt. Normalerweise würde ich keine unnötigen Off-Road-Passagen in einem Rennen riskieren (nicht mit diesen Reifen), aber dieser konnte ich einfach nicht widerstehen.

Ultra-Langstreckenrennen können so elend oder so angenehm sein, wie man sie sich macht. Ein paar „Belohnungen”, verteilt über die Route, heben die Stimmung, egal wie nass, kalt oder hungrig man gerade ist. Zum Glück habe ich keinen Platten bekommen, als ich den Weg ins Tal hinuntergehoppelt bin, immer mit einem dämlich kindischen Grinsen auf dem Gesicht (außer in den Schreckmomenten, in denen mir Schafe vors Rad rannten und ich ausweichen musste!).

Adoptiert von einer Schar Kleinstadtmütter

4:00 Uhr. Wecker. Ich fummle nach meinem Telefon und mein erster Gedanke ist: Sofort das Ladekabel wechseln, damit alle meine Geräte 100 % geladen sind, bevor ich in den neuen Tag starte.

Vor ungefähr vier Stunden wurde ich in einer kleinen Stadt von einer Schar Mütter adoptiert/entführt. Sie brachten mich in den örtlichen Pub, wo ich ein Zimmer für die Nacht bekommen sollte. Man kümmerte sich wirklich liebevoll um mich. Ich bekam ein beheiztes Zimmer und Schutz vor der kalten, nassen Nacht. Jetzt fühle ich mich schuldig: Ich hab früher angehalten als geplant und länger geschlafen als alle schnelleren Fahrer des Rennens. Aber die Freundlichkeit der Fremden und die glücklichen Begegnungen sind zu wertvoll, um sie zu verpassen. Auf dem Weg nach unten zu meinem Rad entdecke ich ein Lunchpaket am Lenker und einen handgeschriebenen Zettel mit den besten Wünschen.

11:22 Uhr: Ich liege weit hinter meinem Plan, als ich am Kielder Castle ankomme, meiner vierten Kontrolle. Paul, mein Kumpel, mit dem ich letztes Jahr den TAW gefahren bin (den TransAtlanticWay, 2500 km entlang der Atlantikküste Irlands), ist schon im Café mitten in einer Gruppe von Zweierteamfahrern. Eine kräftige Umarmung und ein paar Witzeleien genügen, um meine Stimmung zu heben – und auch mit dem Kopf bin ich jetzt wieder voll im Rennen.

Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ob meine Route wohl falsch war oder ich irgendetwas verpasst hatte auf dem Weg. Aber die Jungs bestätigten mir, dass die vielen Möglichkeiten bei der Routenwahl bei diesem Rennen eben auch viele Stunden der Einsamkeit bedeuten können. Und, dass ich auf jeden Fall noch im Rennen sei.

Ich fühle mich erholt und fahre los in Richtung Norden, über die schottische Grenze zu einem kurzen aber ausgesprochen schönen Abstecher „nach Hause”, bevor ich nach Süden abbiege und den 300-Kilometer-Rückweg zur Basis antrete: Vier Kontrollpunkte muss ich noch abhaken.

Gegrüßt sei das Windschutzhäuschen

02:09 Uhr: Ich muss die Augen ganz stark zusammenkneifen, damit ich die Buchstaben am Kontrollpunkt richtig lesen und die Antworten dazu auf meiner Brevet-Karte eintragen kann. Wegen gefährlicher Windböen auf dem Great Dun Fell und sonstiger Trödeleien bin ich ziemlich spät hier angekommen. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, die Nacht durchzufahren, um wieder aufzuholen, aber ich beschließe, dass sich ein kleines Schläfchen auszahlen würde, weil ich danach sicher schneller weiterfahren könnte (obwohl „schnell” eigentlich kein Begriff ist, den ich mit dieser Tour in Verbindung bringen würde). Ich wähle den Bahnhof von Ambleside als meinen Rückzugsort, denn ich sehe, dass die Windschutzhäuschen dort nicht abgeschlossen sind. Im ersten Häuschen liegt schon ein anderer Teilnehmer, also nehme ich mein Rad auf die Schulter und gehe über die Gleise zum nächsten. Mein Biwak ist schnell eingerichtet, ich stelle den Wecker auf zwei Stunden später, lege meine Schuhe als Kissen unter den Kopf und schlafe schon Sekunden später. Nach gefühlt wenigen Minuten klingelt schon der Wecker und ich packe meine Sachen für den letzten Abschnitt.

Starker Regen quält mich den ganzen Tag, und ich ärgere mich über die viele Zeit, die ich verschwendet habe. Wäre ich disziplinierter gewesen, wäre ich jetzt schon näher an der Ziellinie und heraus aus diesem Wetter.

Ein Hoch auf die Kopfhörer!

Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren, um meine negative Stimmung mit fröhlicher Musik zu übertönen (billige Kopfhörer, damit ich noch etwas vom Verkehr mitbekomme und mich nicht ärgern muss, wenn sie vom Regen zerstört werden, was auch passiert ist). Ich beschließe, bis zum Ende disziplinierter zu sein und weniger Pausen zu machen. Mein Tempo ist spürbar zurückgegangen: Die ständigen unerbittlichen Anstiege und die lange Auszeit vom Langstreckenfahren (tatsächlich, das Silk Road Mountain Race war meine letzte große Fahrt) fordern ihren Tribut.

17:03 Uhr: Im All-Points-North-Hauptquartier brummt es: 18 Fahrer sind schon da. In kürzester Zeit habe ich mein Fahrrad geparkt, heiß geduscht, etwas Anständiges gegessen (also nicht noch ein Sandwich von Spar) und alte Freunde getroffen. Alle Erinnerungen an die schweren Moment sind verschwunden und wurden auf magische Weise durch positive ersetzt.

In dieser Nacht habe ich unglaublich gut geschlafen.