Wenn Bernd sich etwas in den Kopf setzt, dann macht er es. Ohne großes Tamtam, ganz für sich allein. Kürzlich ist er an einem Tag 100 km gelaufen. Dabei war er ganz auf sich gestellt. Der einzige Begleiter war die Stimme von komoot in seinem Ohr. Hier erzählt er, welche Gedanken ihm unterwegs durch den Kopf gegangen sind und mit welchen Tricks er sich motiviert hat weiterzulaufen. Dieser Bericht ist ursprünglich auf Bernds Blog „Auf und ab“ erschienen, wir dürfen ihn mit freundlicher Genehmigung mit euch teilen.
Es ist 4.30 Uhr. Mein Wecker klingelt und etwas widerwillig gebe ich nach und stehe auf. Um 5.30 Uhr möchte ich los laufen, so der Plan. Von Hersbruck nach Bad Staffelstein. 100 km quer durch die Fränkische. Ohne Veranstaltung, ohne Organisation und Verpflegungsstände, ohne vorgegebene Faktoren. Einfach ich. Einfach zu Fuß. Einfach laufen.
Bis um 22 Uhr habe ich am Freitag an meinem Laufrucksack rumgewerkelt. Trotz wochenlanger Planung, diverser Tests und Abwägungen habe ich zu viel dabei. Ich merke wie schwer es ist, los zu lassen und mir selbst zu vertrauen. Es gibt nicht für jede Eventualität eine passende Ausrüstung. Ein Ding, ein Gegenstand der Sicherheit. Und trotzdem hätte ich gern immer alles doppelt und mit doppelter Absicherung.
Mein läuferisches Maximum liegt bisher bei 72 km auf dem Rennsteig. Ein wunderschöner, organisierter Ultra-Landschaftslauf mit meist knapp 2.000 Teilnehmern nur auf dieser Distanz. Dazu kommen dann Marathonis, Halbmarathon, Walker und und und. Was genau mit mir nach diesen 72 km passiert, zumal solo, weiß ich noch nicht.
Ich habe mich vorbereitet so gut ich konnte. Sowohl im körperlichen Training als auch mental. Ich habe einige Bücher gelesen zu Ultra-Läufen, auch von zwei Läufern hier aus der Fränkischen (vom niedrigsten zum höchsten Punkt Frankens, 130 km, nonstop). Das alles führt zu einer inneren Klarheit bezüglich meines Laufes: Es ist klar, dass ich das will, und zwar ganz genau so, wie ich es geplant habe. Nicht irgendwie anders, sondern punktgenau definiert. Natürlich bin ich aufgeregt und zappelig vor dem Start, aber es herrscht innere Klarheit. So wird’s gemacht.
Es ist ebenso klar, dass es bei einem Streckenlauf mit Start und Ziel an unterschiedlichen Punkten einen Weg zu durchlaufen gibt. Und rein von der Streckenführung und den gegebenen Umständen ist es schwer bis unmöglich, zwischendrinn abzubrechen. Gut, es ist nicht völlig unmöglich, aber sehr schlecht zu organisieren. Ich müsste dann irgendwelche Leute ansprechen, an fremden Haustüren klingeln und nach Hilfe fragen. Das geht natürlich immer. Sind ja keine 100 km durch die menschenleere Sahara. Aber es ist so schwer vorstellbar und in meinen Gedanken unangenehm, völlig fix und fertig und am Ende meiner Kräfte dann eine Riesenwallung an Erklärungen der Umständen für Fremde loszutreten, damit sie mir Hilfe leisten. Das führt zu einer „entweder-oder-Haltung“ bei mir im Kopf. Es geht, oder es geht nicht. Ich folge dem Rat von Norman Bücher und denke nicht „schau mer mal wie weit ich komme“. Ich denke nur an den Zielbereich: „Ich werde nach Bad Staffelstein laufen. Ich werde.“ Im Geist und vor Augen habe ich immer die klare Vorstellung: Hersbruck bis Bad Staffelstein. Punkt.
In den knapp 15 Stunden kam nicht einmal der Gedanke „Warum das alles?“ auf. Weder als Diskurs mit mir selbst, noch als Rechtfertigungsversuch. Das Ding, der Lauf, ist wie er ist. Er hat eine Eigenschaft und ich werde ihn laufen mit seiner Eigenschaft. Das ist das was es ist.
Bis ich dann endlich los komme ist es 5.45 Uhr. Aber egal. Kein Startschuss, keine Menschenmenge, kein Hubschrauber. Dunkelheit, Straßenbeleuchtung. Es geht los.
Im Ohr habe ich meine Kopfhörer und bekomme von komoot sprachliche Anweisungen, wie ich zu laufen habe. Vom Start bis zum Ziel. Ich habe keine Karten, keine ständige Internetverbindung, und auch nicht alle Punkte und Orte der Strecke auswendig im Kopf. Allerdings habe ich die Tour lange genug visualisiert, um eine gute Orientierung zu entwickeln, wie sie verlaufen wird. Auch kenne ich die ersten 25 km von anderen Läufen bei ähnlicher Streckenführung. Dennoch: Komoot leistet perfekte Orientierung. Sicher bleibt im Zweifelsfall noch Zeit und Raum für Interpretationen, welcher Weg nun gemeint ist, aber im Großen und Ganzen funktioniert es perfekt.
Ich laufe nach Norden, in den Talsenken liegt noch der Morgennebel. Dunkelheit, Kälte. Die Stirnlampe (danke für den Tipp, Markus) macht genau das was sie soll. Ich fühle mich sicher, kenne den Weg, horche in mich und befinde alles für gut. Musik mag ich noch keine hören, ich trabe nach den Anweisungen einfach los.
Am Armgelenk habe ich meine Sportuhr, die mittels Bewegungssensor meine Geschwindigkeit und Entfernung sowie den Puls misst. Noch aus vor-GPS-Handy-Zeiten. Die hat den großen Vorteil, unabhängig von der ganzen Smartphonetechnik zu funktionieren. Ich lass mir meine Geschwindigkeit anzeigen, damit ich bedingt durch Adrenalin und Motivation nicht zu schnell einsteige. Maximal mit 9 km/h will ich laufen, und das klappt auch gut.
Die Strecke habe ich so gewählt, dass ich die ersten eineinhalb bis zwei Stunden mehr oder weniger entlang der Landstraße und Nebenstraße laufe, um Zeit zu sparen und bei lockeren äußeren Bedingungen erst mal auf Touren zu kommen. Ich schraube mich über Kirchensittenbach nach Hohenstein hinauf, gleich die wesentliche Steigung auf der Tour. Trotz des Asphalts setze ich hier sofort meine Stöcke ein und werde sie nicht mehr aus der Hand geben. Oben bei Hohenstein die erste kleine Pause und das erste Photo. Herrlich. Alles funktioniert perfekt.
Ich laufe am frühen Morgen Richtung Spieß und Riegelstein, quere Stierberg, komme durch wunderschöne Landschaften, die ich aus unserer Zeit der Familienwanderungen meist kenne. Später geht es hinunter nach Gößweinstein und zur Behringersmühle. Erste Marathondistanz geschafft.
Noch in Gößweinstein verlasse ich kurz die Route, um an einer Tankstelle mein Wasser aufzufüllen. Beim Start habe ich zwei Mehrwegplastikflaschen mit je 0,75 Liter Wasser dabei gehabt, die erste ist nun leer, die zweite halb voll. Macht etwa einen Liter auf 42 km, das ist klar zu wenig.
An der Tanke muss erst der Service auf mich warten, bis ich aus meinem Rucksack das Geld geangelt habe, und dann muss ich ewig warten, weil inzwischen viele Leute ihre Samstags-Autowäsche einkaufen. Eine kleine Prüfung: Vollgeschwitzt, voll Adrenalin und mit Geldschein in der Hand eine gefühlte Ewigkeit warten, bis alle ihre Waschkarte haben. Nicht das man auf die Idee kommen könnte, den Läufer erst mal fertig abzukassieren, dieses stille Wasser für 1,75 Euro. Na gut. Auch die Prüfung bestehe ich.
Nicht weit entfernt setze ich mich auf eine Bank, fülle mein Wasser um und ziehe einen Energieriegel aus der Tasche. Setze mich kurz, bis die Kälte des Morgens mich auch hier in der Sonne erreicht. Etwas müde sind die Beine, genauer gesagt, die Oberschenkel. Komoot meldet „Sie haben die Tour verlassen. Sie befindet sich links von Ihnen in 800 m Entfernung“. Da ich weiß wo es lang geht, trabe ich wieder los. Von Gößweinstein steil bergab zur Behringersmühle. Ein kurzes Stück auf der Strasse, wie noch so oft heute.
In der Pause habe ich mir einen Podcast von Bayern2 eingelegt, der mir sehr gut gefällt und sehr interessant ist (Körperbehinderter Millionenbetrüger, der jetzt seinen Glauben gefunden hat).
Unten in Behringersmühle angekommen quere ich die Landstraße nach Forchheim und Komoot leitet mich auf den Wanderweg ins traumhaft schöne Aufseßtal. Nicht weit, vielleicht 1 km, dann kommt eine Sitzbank, und hier werde ich meine erste richtige Pause einlegen: mit Kocher, Nudeln und Kaffee!
Vor der Bank ist ein flacher Felsen, perfekte Ablage für meine Kochutensilien. Alles vorbereitet, alles durchdacht und bei einem Trainingslauf probiert: In die große Kochertasse fülle ich 400 ml Wasser, dann entzünde ich mit den Schweizer Sturmstreichhölzern die Flamme. Währenddessen breche ich die chinesischen Curry-Nudeln und gebe zwei Esslöffel Kartoffelbreipulver dazu. Bis das Wasser kocht (kleine Tasse als Deckel) vergehen nur wenige Minuten.
Ich genieße mit meinem 17-Gramm-Titanfaltlöffel die heißen Nudeln und anschließend den Instantkaffee. Aus einer alten Folie zum Abdecken der KFZ-Windschutzscheibe habe ich mir daheim ein kleines Stück ausgeschnitten als Isolierschicht gegen die Kälte, wahlweise für die Füße im Stehen oder für den Hintern im Sitzen auf der Bank. Alles perfekt. Vor mir das herrliche Tal, die Sonne scheint, ich alleine im Wald und Ruhe. Bewegung. Laufen. Alles im Lot, alles wie geplant. Mir fällt der Spruch einer Bekannten ein: „Wer Gott zum lachen bringen will, der macht sich einen Plan“. Ich schmunzele in mich hinein, löffele meine Nudeln, schlürfe Kaffee, mache Bilder und fühle mich großartig.
Etwa 30 Minuten gönne ich mir für die Pause, dann packe ich meine Sachen wieder ein. (Klasse: Ein Power-Gel ist undicht und verklebt mir die Tasche mit den anderen…). Bis ich anschließend mit Hilfe der Stöcke wieder in ein Lauftempo von 8 bis 9km/h komme dauert es so seine Zeit. Deutlich spürbar der Muskelkater in den Oberschenkeln. Aber der traumhafte Wanderweg und der gute Podcast zusammen mit den Nudeln im Bauch und der Sonne im Tal lassen schnell alles vergessen. Zu abwechslungsreich ist der Lauf über den wurzelgesäumten Pfad, zu viel gibt es zu sehen (und zu viel sehe ich nicht im Vergleich zu Wanderern, weil ich dauernd auf den Weg achten muss, um nicht zu stürzen.) Nach einigen Minuten wird es mir doch zu warm, ich ziehe während des Laufens die Jacke wieder aus und stopf sie in den Rucksack. Dauert eine gefühlte Ewigkeit, aber nachdem ich Anhalten als nicht so gute Option für die Beine empfinde geht das alles auch so, irgendwie.
Bei Doos quere ich immer noch dem Aufseßtal folgend eine kleine Landstrasse und bin von nun an alleine mit dem Tal, dem Fluß und dem Wanderweg. Nur einmal überhole ich ein wanderndes älteres Paar und höre noch Wortfetzen hinter mir von der Diskussion der beiden über den Nutzen von Wander- und Teleskopstöcken. Sie hatte welche, er nicht. Und dann rennt so ein Spinner vorbei, rennt, mit Stöcken und Rucksack… ts ts ts.
Aber die Trailrunningstöcke sind einfach genial für solche Vorhaben. Sie entlasten die Gelenke, geben Stabilität und zusätzliche Sicherheit. Ich ahne noch nicht, wie sehr ich sie brauchen werde, wenn ich vom Staffelberg nach Bad Staffelstein hinunter schleichen werde…
Seit Doos gibt es im Tal nur noch den Weg, den Fluß und mich. Keine Strasse mehr, keine Ortschaften. Ein kleines Paradies. Der Himmel wird grau, es nieselt leicht, aber das stört nicht im geringsten.
Ich werde nun etwa die Hälfte der Distanz haben, aber ich zwinge mich, nicht daran zu denken. Ich habe mir den Lauf in drei Teile geteilt. 3 mal 30 km und dann noch zehn bis ins Ziel. Also denke ich in Dreißiger-Rhythmen, nicht in Hälften. Und schon gar nicht, wie weit es noch sein wird. Und auch nicht, ob ich es noch schaffe. Ich arbeite also gerade an meinen zweiten Dreißigern, soweit ist alles gut. Ich merke, wie es sich langsam zieht und dehnt. Es geht nicht mehr so schnell wie am Anfang. Damit meine ich nicht die Beine, sondern die Hinweistafeln am Weg. Bis dahin und dorthin noch 4,5 km. Bis ich dann wirklich dort bin kommt es mir so vor, als wäre ich schon eine kleine Ewigkeit unterwegs.
Irgendwo im Tal sehe ich einen großen alten Baum, dessen Stamm mindestens einen Meter Durchmesser hat. Unten fällt mir der Einschlag auf, und ich denke noch: „Hä, wieso wird dieser schöne alte Baum hier mitten im Tal gefällt ?“ – bis es zu mir durchsickert, dass heute niemand mehr Bäume mit der Axt fällt, und die Einschläge in Wirklichkeit das noch nicht vollendete Werk eines Bibers ist.
Ach wie schön ist das hier. Das muss ich unbedingt mal meinen Eltern zeigen (ohne deren Hilfe ich nicht mein Material hätte, mit dem ich hier heute so gut zum Laufen komme. Vielen Dank euch noch einmal an dieser Stelle!).
Über Wüstenstein und Aufseß geht es bis Neuhaus, wo ich endgültig das Aufseßtal verlasse. Ab jetzt geht es wieder „querfeldein“ über „Kotzendorf“ nach Königsfeld und Steinfeld. In Steinfeld trinke ich im Stehen in einem Gasthof eine kleine Cola und lasse mein Wasser auffüllen. Der Stammtisch schaut Bundesliga und nimmt mich nur kurz zur Kenntnis. 1,20 Euro für die Cola, und tschüss. Langsam wird es schwierig, wieder ins Laufen zu kommen. Gehen ist prima, laufen schwer. Beim Übergang ist es mehr ein Humpeln, als ein Laufen. Aber wenn dann irgendwann der Motor anspringt und „auf Drehzahl“ kommt, dann geht es. Den Stöcken sei Dank. Mit der beste Ausrüstungsgegenstand. Einfach genial.
Mein nächstes Ziel im Kopf ist die Über- bzw. Unterquerung der Autobahn von Bamberg nach Bayreuth. An dieser Stelle habe ich eine Distanz von 76 km zurückgelegt. Ab jetzt also noch 25 km. Aber es dauert immer länger, bis ich endlich irgendwann gehend die Autobahn unterquere. 25 km Gehen wären noch fünf Stunden. Es dämmert bereit, es ist gegen 17.30 Uhr. Seit 5.45 Uhr bin ich unterwegs. Noch fünf Stunden, dann wäre ich um 22.30 Uhr in Bad Staffelstein. Das ist mir doch eindeutig zu spät. Mir ist klar, dass ich wieder in die Dunkelheit kommen werde. Aber mir ist nicht klar, wie lange meine Stirnlampe noch Strom haben wird.
Wieder und wieder setze ich zum Laufen an. Bin ich erst einmal in Fahrt, geht es ganz gut. Bis zur nächsten Steigung, bei der ich dann wieder gehen werde. Zum Glück gibt es nicht so viele Steigungen mehr auf meinem Weg…
Es wird immer dunkler. Ich rufe mir den Verlauf der Strecke ins Gedächtnis, weiß ungefähr, wo ich bin und was noch kommt. Ich habe die Route so gelegt, dass ich auf jeden Fall über den Staffelberg kommen werde. Ich laufe an Hinweisschildern vorbei (Bad Staffelstein 12 km) und bleibe fest bei meiner Route (5 km mehr und nicht hier abkürzen). Bis jetzt lief alles nach Plan. Ich will über den Staffelberg, ich will meine Route laufen und nicht auf irgendeiner Nebenstrasse zum Ziel schleichen. Also geht es weiter. Im Rhythmus der Ultraläufer, wie ich gelesen habe: ein Stück gehen, dann wieder laufen. Und so weiter. Irgendwie schmilzen die Kilometer dahin, ich rechne runter für mich: weniger als 20 km, weniger als 17 km, und es wird immer dunkler.
Als der Himmel schließlich ganz dunkel wird und das letzte Licht des Tages im Westen verschwindet (in Richtung Staffelberg), werde ich von Komoot wieder über eine Ortsverbindungsstrasse geleitet. Ich trage meine hellgelbe „LIDL-stoppt-alles-Jacke“, aber dennoch möchte ich gern besser gesehen werden. Am Fußgelenk befestige ich ein Reflektionsband, am Arm eine nach hinten ausgerichtete blinkende Leuchtdiode. Damit ich selbst was sehen kann die Stirnlampe wieder auf dem Kopf. So geht es auf der Straße durch Wald und über Felder. Mit immer neuem Horizont, und dennoch irgendwie endlos. Die Dunkelheit reduziert mich wieder auf den kleinen Bereich vor mir, den meine Lampe ausleuchtet.
Die Nacht umfängt mich langsam, ich verlasse die Straße und biege auf einen sehr lang gezogenen Feldweg ein. Der windet sich zwischen Feldern und Wäldern dahin, rechts unten sind Lichter einer Ortschaft zu erkennen. Ich habe meine Route im Kopf und weiß, ich nähere mich dem Staffelberg.
Ursprünglich hatte ich vor, hier noch einmal den Kocher anzuwerfen. Aber weit gefehlt. Ich will nur noch laufen, weiter durch die Dunkelheit. Irgend etwas mit über 10 km werden es noch sein. Zwei Stunden wenn ich gehe. Also gehe ich nicht. Ich laufe weiter.
Mit der Dunkelheit geschieht etwas Unerwartetes mit mir: Eigentlich wollte ich sie vermeiden. Ich wäre gern noch bei Tageslicht angekommen. Noch ein Foto vom Staffelberg mit Blick auf Bad Staffelstein, so ein naiver Gedanke. Nun aber beruhigt mich die Dunkelheit viel mehr als das sie mich verunsichert. Ich sehe keine Distanzen mehr, es gibt nur noch mich, den Weg oder die Strasse und den Lichtkegel. Daher fällt es auch leichter, nicht mehr zu gehen sondern im Laufen zu bleiben. Unglaublich. Nach über 90 km kann ich noch ganz gut laufen. Ich sag mir immer wieder: „Es spielt sich alles im Kopf ab, nicht in den Beinen.“ Und irgendwie stimmt das dann auch. Die noch fehlende Wegstrecke zu sehen wäre eine Qual gewesen („Noch immer so weit..“). So aber ist es ein positives Vakuum in Raum und Zeit. Ich laufe der Stimme von komoot hinterher und staune noch immer, sie macht keine Fehler. Nur richtig interpretieren muss ich sie manchmal. Ein Blick nach oben: Sternenhimmel. Im Westen leuchtet das Licht der Stadt über dem Staffelberg. Oben gibt es ein Haus, ich sehe deutlich Lichter.
Die Straße (kaum ein Auto) führt weiter Richtung 12 Apostel, vorher am Waldrand der Parkplatz. Ab da sind es noch 7,6 km bis zum Ziel. Das hab ich im Kopf. Endlich sagt die Stimme von komoot: „Bei nächster Gelegenheit links auf Feldweg“ und „Jetzt links“. Ich hab es quasi geschafft. Runter von der Straße, auf den Weg den ich vom herrlichen Obermainmarathon schon kenne. Ich gönne mir ein Stück Gehen. „Folge dem Weg 3,8 km“ sagt komoot und ich schlucke. Mein Kopf hatte diesen Wegpunkt zu sehr als Ziel fixiert auf dem Weg durch die Dunkelheit. Jetzt ist er erreicht, aber es fehlen noch fast 8 km bis zum Ziel. Oder 1,5 Stunden wenn ich gehe. Also gehe ich nicht. Ich laufe wieder.
Zwischenzeitlich denke ich, was ich wohl machen würde, wenn jetzt die Lampe versagen sollte. Markus meinte, vier Stunden reiche der Akku. Die werde ich bald haben. Zur größten Not könnte ich mit der Taschenlampenfunktion des Smartphone den Weg suchen. Aber der ist hier oben eh breit genug und dadurch selbst bei Nacht noch ohne Licht zu erkennen. Und wenn ich gar nichts mehr sehen würde, so wäre noch das Haus mit den Lichtern oben am Staffelberg.
Überhaupt wird manches Problem jetzt sehr relativ. Ich glaube, ich habe viel überlegt und geplant bei diesem Sololauf über 100 km, aber nicht alles ist planbar und nicht alles wäre ein Riesen-Problem. Es gibt auch Lösungen im „Hier und Jetzt“, situativ und spontan. Es tut gut, das zu merken.
Ich erreiche den Punkt am Staffelberg, an dem es entweder nach oben geht (und es nicht weit ist auf den Gipfel) oder nach unten, nach Bad Staffelstein. Ich mag diesen Punkt sehr, ich kenne die steile Kurve des Weges genau von meinen Teilnahmen am Marathon in Bad Staffelstein. Hier, genau an dieser Stelle, hab ich meinen ersten Marathon abgebrochen. Im Frühjahr 2012 , als ich in der Nacht vor dem Marathon nur wenige Stunden schlafen konnte, als ich mir mit den Pollen des Frühlings die letzte Energie aus dem Körper gehustet hatte. Da war zum ersten und letzten Mal vorzeitig Schluss für mich. DNF – did not finish.
In der Dunkelheit verabschiede ich mich von den letzten Schritten des Laufens. Ab hier geht nur noch im Gehen. Es geht den Berg hinunter, meine Oberschenkel brennen und ich muss sehr gut aufpassen, nicht zu stolpern oder zu stürzen. Wieder leisten die Stöcke ausgezeichnete Dienste. Ohne sie könnte ich nicht mehr gerade dem Weg folgen. Das klingt komisch, aber wer innerlich schon einmal an so einen Punkt der Erschöpfung gekommen ist, weiß was ich meine.
Ich gehe ganz langsam den Staffelberg hinab. Ich genieße es fast. Ich spüre, wie das ein schwieriger Punkt wird, denn ich habe mein Ziel nach 15 Stunden endlich erreicht. Das Ziel zu erreichen ist schwierig, denn es fehlt der Sinn für den nächsten Schritt. Er kann zunächst einmal nur negativ formuliert werden: „Jetzt nicht hier umfallen. Nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben.“ Alles negative Gedanken. Ich wische sie weg. „Mein Ziel“. Ich habs geschafft.
Ich spüre, wie mir die Kälte in die Finger schleicht. Ich höre die Autobahn, die ich noch überqueren muss. Alles geht nur noch in Zeitlupe. Egal. Ich kenne den Weg, frage dann doch noch ein oder zwei Passanten. Nur nicht jetzt noch verlaufen in Bad Staffelstein. Klingt komisch, aber jeder Meter Umweg würde mich jetzt innerlich ruinieren.
Schließlich erreiche ich den Bahnhof.
Geschafft.
Es ist mir viel zu kalt zum Ausruhen oder Hinsetzen. Kurz diskutiere ich noch mit Taxifahrern, was eine Fahrt zurück nach Hersbruck kosten würde. 180 Euro sind dann doch zu happig („Was zu Fuß ? Gelaufen ?!? Das haben wir ja noch nie gehabt! Mit dem Rad schon, aber zu Fuß, an einem Tag?“) Also warte ich auf den Zug, der in 45 Minuten fährt. Ich gehe nebenan in einen Gasthof, trinke eine Cola und zwei heiße Tassen Tee.
Die Zugfahrt dauert fast zwei Stunden, davon über die Hälfte mit einem vollgestopften Abteil Jugendlicher, die in dem Zug ihre Party feiern, bzw. dort „vorglühen“. Naja. Mich nervt es etwas, zu stark ist der Kontrast. Aber von mir will ja keiner was (verschwitzt, schlammig, verschmoddert, mit Rucksack und Stöcken), und daher lässt mich der Kontrast auch wieder schmunzeln.
Um 23.45 Uhr gehe ich die letzten Schritte vom S-Bahnhof nach Hause.
Endgültig geschafft.
Im Nachhinein bin ich überrascht, wie gut ich den Lauf gemeistert habe. Alles lief wie am Schnürchen. Ich war körperlich und mental gut vorbereitet. Es gab keine Ängste, keine Verzweiflung, kein inneren Knoten. Im Gegenteil. Das alles alleine gemacht zu haben, von der Idee bis zur Durchführung, von der Umsetzung bis zum letzten Schritt, ohne Verpflegungsstände, ohne Streckenposten, ohne Start und Zieleinlauf, ohne Publikum und ohne Medaille. Nur ich und meine Schuhe. Und etwas Ausrüstung.
Genial. Nicht zu toppen. Ich komme wieder !
Alle Fotos von Bernd Mirbach
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